19. Mathematisierung der Stichprobentheorie
Wie gesehen, die Idee der repräsentativen Stichprobe gründet sich noch in wenig Mathematik. Mehr oder weniger systematisch wird ein gesellschaftlicher Bereich erhoben und nach interessierenden Merkmalen mit der zur Verfügung stehenden Merkmalen der Grundgesamtheit verglichen. Die Mathematisierung des Verfahrens geschah erst in einem zweiten Schritt und weniger spektakulär als die Debatten um die Einführung der Stichprobe und des Konzepts der Repräsentativität. Die Mathematisierung sollte die Aussagemöglichkeiten der Stichproben definieren helfen, sie damit nachvollziehbar und kritisierbar werden lassen.
Arthur Lyon Bowley und die Armutsforschung
Die Mathematisierung der
Stichprobenverfahren und damit die Begründung der modernen Stichprobentheorie im heutigen
Sinne leistete im wesentlichen der britische, an der London Scool of Economocs lehrenden
Mathematiker A. L. Bowley (1869-1957). Der Kontext der Entwicklung einer
sozialwissenschaftlichen und mathematischen Stichprobentheorie liegt in Bowleys
Engangement für britischen Sozialreformen und, wie er selbst sagt, dem knappen Budget, das
für seine Armutsforschungen zur Verfügung stand.
Bowley, fasziniert
von Kiaers Idee, erweiterte die Stichprobentheorie, indem er sie mit
wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen verband. Weshalb aber mathematisierte aber
Bowley Kiaers des representative Sampling überhaupt?
Die
wahrscheinlichkeitstheoretischen Modelle lassen Aussagen zu über wahrscheinliche
Entsprechungsbereiche von Stichprobe und Grundgesamtheit sowie über wahrscheinliche Fehler
der Schätzungen von Merkmalen in der Grundgesamtheit, die unbekannt sind nicht von
vornherein festgelegt sind – aber dann und nur dann, wenn die Modellbedingungen der
Wahrscheinlichkeitsrechnung überhaupt gegeben sind.
Die Frage der Modellbildung
Die Problematik Modellbedingungen hatten
Sozialstatistiker wie Quetelet, welche die Wahrscheinlichkeitsrechnung sehr wohl kannten,
bislang zurückgeschreckt, sie auf den Bereich der Gesellschaft anzuwenden.
Die Anwendungsbedigungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Stichproben
sind in einem gängigen Metapher zusammengefasst, nämlich dem sogenannten
Urnenmodell.
Ein Universum, oder die Grundgesamtheit, die
Population oder das Ganze wird, so Bowley, ist symbolisiert über eine Urne oder eine
Gruppe von Urnen, welche eine Anzahl von Kugeln enthalten, die nur hinsichtlich des
Kriteriums der Farbe der Kugeln variieren. Aus diesen Urnen werden eine oder mehrere
Stichproben gezogen, aufgrund vordefinierter Regeln und danach (mathematisch) gefragt,
welches das Entsprechungsverhältnis zwischen den Stichproben und den Kugeln darstellt. Mit
einer unterschiedlichen wahrscheinlichkeitstheoretisch festgelegten Sicherheit lässt sich
dann sagen, in welcher wahrscheinlichen Spannbreite die effektiven Farbenverhältnisse der
Kugeln in der Urne liegen, obwohl nicht der Inhalt der ganzen Urne bekannt ist.
Die Wahrscheinlichkeitstheorie liefert hier exakte Ausformulierung
dessen, was sagbar ist, welche Wahrcheinlichkeitsbereiche der Aussage über das Ganze
möglich sind (in die Mathematik der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird in Kapitel XXX
eingeführt).
Doch was sind die Voraussetzungen überhaupt, dass
das Urnenmodell überhaupt auf den Untersuchunsbereich anwendbar ist?