22. Urnenmetapher

Obwohl heute ein ganzes Feld von statistischen Stichprobenverfahren existieren, die unter dem Stichwort der repräsentativen Stichprobe zusammengefasst sind, ist es notwendig, die basalen Erfordernissen der Übertragbarkeit des Urnenmodells auf soziale Phänomene bewusst zu bleiben. Einige Aspekte dieser nicht immer einfachen !ubertragung sollen hier aufgelistet werden. Die Anwendung der Stichprobentheorie fordert, dass der Untersuchungsbereich die wesentliche Eigenschaften einer Urne teilt. Dies zieht die Fragne nach sich nach der:

  • Symbolisierbarkeit des Universums
    Um überhaupt "Kugeln" für die Stichproben greifbar zu machen, müssen sie als Katalog, heute zumeist in elektronischer Form vorliegen. Denn nur dann lassen sich, entweder mit Bleistift und Zahlrahmen oder mit Computer die Stichproben auswählen. Es muss sichergestellt werden, dass alle interessierenden Einheiten der Grundgesamtheit überhaupt erfassen lassen. Sie müssen in einem Katalog, mit einem Index versehen, volltständig symbolisch präsent sein. Dies stellt unter Umständen, wie unschwer erkennbar ist, grosse technische wie auch datenschützerische Probleme. Sei es, weil ein Verzeichnis gar nicht vorliegt, sei es weil es nicht zugänglich ist, sei es, weil es unvollständig ist.

    -> Nehmen wir an, es sollen die working poor in der Schweiz untersucht werden. Neben dem hier nicht zu diskutierenden Problem, auf welche Weise "working poor" definiert wird, stellt sich die Frage, was heisst eigentlich "in der Schweiz". Gemeint sei wohl die Wohnbevölkerung. Doch gehören hier beispielsweise die Saisonniers und die GrenzgängerInnen dazu, die sehr von dem Phänomen betroffen werden können? Und was geschieht mit den Personen ohen festen Wohnsitz? Selbst das Bundesamt für Statistik kennt eine ganze Reihe von Bevölkerungsdefinitionen -> Dokument

  • Definition der Einheiten
    Zunächst ist die Frage, was die Kugeln, respektive die Einheiten des Sozialen, vergegenständlichen. Es ist eine Einsicht der Soziologie, dass nicht alle soziale Phänomene auf Individuen, respektive Summen von Individuen rückbezogen werden können. Vielleicht interessieren Familien als soziale Einheiten, Betriebe, Organisationen, Gemeinden oder gar Staaten. Wie kann aber heute eine Familie definiert werden? Die Definition dieser "Kugeln" ist mitunter nicht sehr einfach.

  • Zugänglichkeit der Einheiten
    Damit verbunden ist ein weiteres Problem: damit die wahrscheinlichkeitstheoretische Aussagen überhaupt zulässig sind, muss jede Einheit der Urne (der Grundgesamtheit) Universums die gleiche Chance haben, sich in der Stichprobe zu finden. Das heisst, die Kugeln in der Urne müssen gut durchmischt sein und alle für die stichprobengreifende Hand in gleicher Weise zugänglich. Per definitionem ist aber die Urne undurchsichtig. Wer sagt denn, dass in der Urne alle Kugeln gut durchmischt sind, wenn ich nur Stichproben daraus nehmen kann?

Beispiel: Stichprobe, Katalog und Grundgesamtheit bei Telefoninterviews

Anhand der Stichprobenbasis der Telefoninterviews soll diese Praktik kurz diskutiert werden.

  • Der weitaus grösste Teil der sogenannten repräsentativen Stichprobe wird mit Telefoninterviews gemacht. Teils ausgeklügte Verfahren sollen verhindern, dass bestimmte Haushaltsmitglieder die grösseren Chance haben, mit dem Befragungsinstitut in Kontakt zu treten. Das Problem bleibt: welche Grundgesamtheit wird hier im Zeitalter von Handy, ISDN, liberalisierten Telekommärkten ohne Eintragspflicht für Telefonnummern erfasst?
  • Nicht zuletzt bestehen auch datenschutzrechtliche Probleme bei der Erstellung eines perfekten Katalogs der Bevölkerung. Die Begehren der Statistiker stossen hier auch auf Widerstände in der Bevölkerung selbst
  • Es stellt sich damit die Frage, welche Gesellschaft eine wahrscheinlichkeitstheoretische fundierte "repräsentative" Stichprobe repräsentiert, die mit Telefoninterviews gemacht wurde. Genau genommen ist es die folgende: "In Haushalten mit einem eingetragenen Telefonanschluss eines Ortsnetzes der Swisscom lebende Personen, die während des Untersuchungszeitraumes hätten erreicht werden können und sich zu einer Teilnahme an dar Befragung entschlossen hätten." (Schnell, S. 259)

Konsequenzen aus den Forderungen der Urnenhypothese

  • Was sich hier zeigt ist: die oben genannten Bedingungen sind alles Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Stichprobe mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung "repräsentativ" gemacht werden könnte. Denn alleine diese Voraussetzungen lassen die sinnvolle Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu (angewandt kann sie freilich immer werden), um damit Aussagen über den wahrscheinlichen Streubereich unbekannter Merkmale zu formulieren.
  • Deshalb besteht die Auffassung, dass Zufallsstichproben als einzige als einzige Stichprbenart als "repräsentativ" bezeichnet werden können. Es wird gar gefordert, die Begriffe der Wahrscheinlichkeitsstichprobe und der Repräsentativität synonym zu verwenden. Freilich erwiese sich dann zumindest der Begriff der statistischen Repräsentativität als überflüssig. Ungeachtet dessen weist er auf Fragen hin, die seit Kiaers Ausführungen nicht alleine über die Anwendung statistisch-mathematischer Theorie lösbar ist. Denn dass die wahrscheinlichkeitstheoretischen Bedingungen vorliegen für die Stichprobenziehung, bleibt im Verlaufe des Stichprobenziehung selbst nicht überprüfbare Hypothese.
  • Oder mit anderen Worten: dass die Bedingungen gegeben sind, lässt sich nicht mit den Mitteln Stichprobe selbst überprüfen. Oder mit anderen Worten: die Stichprobe ist gerade dadurch definiert, dass nur einen Teil des Gesamten darstellt, dessen Geltung gerade über die Rahmenbedingungen definiert sind, die selbst die Stichprobe bestimmen.