15. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen vor der Einführung der repräsentativen Stichproben

Weshalb war Kiaers Idee so neu? Weshalb erregte sie Widerstände? Weshalb versank sie wieder in Vergessen?

Um die Kritik an der Methode zu verstehen ist zunächst zu sehen, auf welche Weise sozialwissenschaftliche Untersuchungen vorgenommen wurden, vor der Einführung der Stichproben.

Primat der Vollerhebung

Mit zunehmender Bürokratisierungen, Rationalisierung und Professionalierung im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erhoben die staatlichen Verwaltungen in einer neu entstehenden Zettelwirtschaft vermehrt auch statistisch verwertbare Datenbestände (Statistik leitet sich schon alleine von der Begrifflichkeit von "ragione di state" als Staatsrationalität her).

Diese Datenbestände wurden schon früh für sozialwissenschaftliche Untersuchungen verwendet. Zu den Pionieren zählten beispielsweise Alphons Quetelet aber auch Friedrichs Engels (mit seinen Untersuchungen zur Arbeiterklasse in England). Die frühen statistischen Erhebungen und soziologischen Untersuchungen selbst noch Emile Durkheims beruhten allesamt auf Vollerhebungen, das heisst Daten basierend auf Volkszählungen oder Vollerhebungen in Städten und Gemeinden. Nur einen Teil des Untersuchungsfeldes zu untersuchen, galt als wenig sinnvoll.

Ein Beispiel eines Pioniers der Sozialstatistik, des Astronomen A. Quetelet (1835), das die Alphabetisierung von Gefängnisinsassen in Frankreich des Jahres 1828 zeigt eine solche Vollerhebung. Heute wird man nicht mehr sämtliche Gefangenen auf ihre Alphabetisierung hin prüfen.

Monographien

Die andere Untersuchungsform der Sozialwissenschaften waren die so genannten Monographien. Üblicherweise werden sie als Einzelfallanalyse dargestellt. Eher sollte man aber von Feldstudien, die u.U. mit statistischen Mitteln operierte, sprechen: eine Region, ein Quartier, eine Stadt wurden hinsichtlich ihrer soziologischen Entwicklung hin möglichst genau untersucht und beschrieben. Pionier dieser Form der Sozialforschung war Frédéric Le Play (1806-1882). Der französische katholische Sozialreformer interessierte sich vor allem für den Zustand der Familie angesichts der beschleunigenden Industrialisierung (Les ouvriers européenne, 1877). Le Play ging unabhängig seines nicht-statisichen Verfahrens sehr methodisch vor: Vgl. "Instruction sur la Méthode d'observation dite des monographies de famille, 1862"